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Judith Joy Ross fotografiert ausschließlich schwarz-weiße Porträts. Die meist einzeln auftretenden Personen werden durch die geringe Tiefenschärfe aus ihrem Umfeld visuell herausgehoben. Ross verwendet immer eine 8x10 inch (ca. 20x25 cm) Großformatkamera. Dieses Format ist nicht für spontane Aufnahmen geeignet, sondern erfordert eine sorgfältige Prozedur vom Scharfstellen bis zur Belichtung, was sich in der Haltung und im Blick der Porträtierten widerspiegelt, die einen längeren Moment still halten müssen. Im Buch sind die Bilder in der Negativgröße abgedruckt, so dass die Präzision der in den Ausstellungen präsentierten Kontaktkopien auch im Druck noch zu erkennen ist.
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Die folgenden Porträts zeigen die Menschen meist halbnah. Manche schauen direkt in die Kamera, andere scheinen die Namen auf der – für den Betrachter unsichtbaren – Wand zu lesen. Die Menschen blicken ernst, gefasst und wirken sehr bei sich. Die Bilder zeigen Menschen unterschiedlicher Generationen. Ob sie persönlich von den Auswirkungen des Krieges betroffen sind, erfahren wir nicht. Die Porträtierten sind namenlos, es gibt keine Bildtitel, die Informationen liefern könnten. Wir betrachten Menschen, die sich individuell der Erinnerung an die historischen Ereignisse an einem atmosphärisch aufgeladenen Gedenkort aussetzen.
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Besonders intensiv wirken jene Bilder der Serie „U.S. Army Reserve“, in denen die Porträtierten direkt in die Kamera blicken und sich das im Raum vorhandene Licht in ihren Augen spiegelt. Doch auch die Porträts derjenigen, die nachdenklich in die Ferne oder auf den Boden schauen, besitzen eine Intensität, die unter anderem auf der hohen Auflösung und Plastizität der Großformat-Fotografien beruht. Die große Strahlkraft der Originale vermittelt sich noch im gedruckten Buch.
Zwischen den Bildern der SoldatInnen fügt Ross Fotografien von jungen Menschen ein, die gegen den Krieg protestieren. Auch sie schauen ernst und konzentriert. Weil sie Zivilkleidung tragen, wirken sie aber individueller als die Armeeangehörigen.
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Ross unternimmt keine Einordnung über berufliche oder soziale Attribute. Sind sie jedoch vermerkt, wie beispielsweise bei der Fotografie des ehemaligen Kongressabgeordneten und Senators John Verkamp, wirkt dies fast schon störend. Besonders fällt die Fotografie eines Priesters auf. Die Präsenz der berufstypischen Insignien lässt die sonst vorhandene Anonymität verblassen und führt dazu, dass man Gesichtsausdruck, Haltung und Kleidung als Ausdruck des beruflichen Interesses interpretiert. Die Individualität und Anonymität der Person wird in der Zuordnung zu einer spezifischen Berufsgruppe zurückgenommen. Denn die Unmöglichkeit, gültige Aussagen über die Porträtierten zu treffen oder sie einer bestimmten sozialen Gruppe zuzuordnen, hebt deren Individualität geradezu hervor. Und darin liegt eine der herausragenden Qualitäten der Arbeit von Judith Joy Ross. Blick, Haltung, Kleidung bilden die wenigen Attribute, die sich zur Betrachtung der abgebildeten Personen heranziehen lassen. Das Fehlen zusätzlicher Informationen, also die Konzentration der Arbeit auf das im Bild Abgebildete und damit die außerordentliche Wirkung des bloß Sichtbaren, entziehen einer deutenden Betrachtung die Grundlage.
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Ross zeigt die Physiognomien einiger ihrer Landsleute, die durch das Ereignis Krieg an der politischen Realität teilhaben. Insofern gehen die Porträts über das Individuelle der einzelnen Personen hinaus. Sie erzeugen Aufmerksamkeit für die Verantwortung, die das Individuum im gesellschaftlichen Rahmen trägt. Die drei Serien geben einen Einblick in unterschiedliche Momente der jüngeren amerikanischen Vergangenheit bis hinein in die Gegenwart. Die dokumentarische Haltung von Judith Joy Ross lässt die Porträtierten in den Fotografien eigenständig auftreten. Zugleich hält sich die Fotografin mit der Interpretation zurück. Ihr Interesse gilt nicht der konkreten politischen oder gesellschaftlichen Situation, sondern den Menschen, die sich zu ihr verhalten müssen und mit ihr auseinandersetzen. Auf diese Weise macht sie auch ihren eigenen – dezidiert gegen den Krieg gerichteten – Standpunkt deutlich.
Judith Joy Ross: Living with War. Herausgegeben von Heinz Liesbrock. Kat. (Josef Albers Museum Quadrat Bottrop), Göttingen 2008, Steidl.
164 Seiten, 86 Abbildungen
Format: 30 x 24 cm
In diesem Sommer sind die Bilder aus „Living With War“ von Judith Joy Ross an verschiedenen Orten zu sehen: „Living With War“: 4.6. bis 28.6.2008 Galerie der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, 19.7. bis 5.10.2008 c/o Berlin; „Protestors“: 13.6. bis 19.7.2008 Galerie Sabine Schmidt in Köln.