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Sunday, May 25, 2014

Michael Schmidt

Der Berliner Fotograf Michael Schmidt, der seit den 1970er Jahren zahlreiche wegweisende Fotobücher publiziert hat, ist gestern im Alter von 68 Jahren gestorben. Gerade am Donnerstag wurde ihm noch für das Projekt Lebensmittel, das 2012 als Buch im Kölner Snoek Verlag erschienen ist, der renommierte Schweizer Prix Pictet zuerkannt.

Michael Schmidt hatte 1976 in Berlin die Kreuzberger Werkstatt für Fotografie gegründet und damit ein wichtiges Forum für künstlerische Fotografie geschaffen, das bis heute die Fotografie-Szene in Deutschland nachhaltig beeinflusst. Im Rahmen der Werkstatt für Fotografie kamen zahlreiche amerikanische Fotokünstler erstmalig nach Deutschland, beispielsweise William Eggleston, John Gossage oder Lewis Baltz. Bereits 1988 wurde Schmidts Serie Waffenruhe (Berlin 1987, Dirk Nishen Verlag) im New Yorker Museum of Modern Art ausgestellt, 1996 folgte dort eine Einzelausstellung mit der Arbeit EIN-HEIT | U-NI-TY (Zürich 1996, Scalo).

Michael Schmidts Werk hat Generationen junger Fotografinnen und Fotografen maßgeblich geprägt. Seine fotografische Präzision und Konsequenz hat Wege aufgezeigt, sich stets kritisch mit dem eigenen fotografischen Schaffen auseinanderzusetzen und sich nicht zu schnell mit der (oberflächlichen) bildnerischen Qualität von Fotografien zufrieden zu geben. Ohne ihn wäre die Fotografie heute nicht da, wo sie ist.

Er wird sehr fehlen.

Wednesday, September 23, 2009

Shinkichi Tajiri: The Berlin Wall

In seinem Vorwort zum Buch »Berlin at the Times of the Wall« schreibt der amerikanische Fotograf John Gossage, er habe sich Mitte der 1980er Jahre anlässlich seines ersten Besuchs in West-Berlin darüber gewundert, dass die West-Berliner FotografInnen sich überhaupt nicht für das Motiv der Berliner Mauer interessierten. Tatsächlich scheint Michael Schmidts Buch »Waffenruhe« von 1987 eine der wenigen zeitgenössischen Ausnahmen zu sein. Abgesehen von zahlreichen Fotografien, die die Berliner Mauer im Stadtteil Kreuzberg dokumentieren, haben die peripheren Bereiche offensichtlich wenig fotografisches Interesse erzeugt. War die Existenz der Mauer auch in den 1980er Jahren noch zu schmerzlich oder war sie vielleicht einfach zu alltäglich als dass ihre Dokumentation lohnenswert schien? Um so bemerkenswerter ist es, dass nun, 20 Jahre nach ihrer Überwindung, ein Buch über die Berliner Mauer im Fotobuchhandel erscheint, das der japanischstämmige Amerikaner Shinkichi Tajiri von 1969 bis 1972 in West-Berlin fotografiert hat. Tajiri (1923-2009) wurde 1969 zum Professor an die Berliner Hochschule der Künste (heute: Universität der Künste) berufen. Ebenso wie Gossage etwa fünfzehn Jahre später fasziniert ihn dieses Bauwerk, das West-Berlin umschließt und sich mitten durch die Stadt zieht, die es zweiteilt. Er beschließt, den 43 km langen Abschnitt zwischen West- und Ost-Berlin vom Südosten bis zum Nordosten West-Berlins fotografisch zu dokumentieren.

Dabei ist zunächst ein historisches Dokument entstanden. Das Buch im Format eines Ziegelsteins mit 550 schwarzweißen Fotografien zeigt das zu dieser Zeit etwa acht Jahre alte Bauwerk, das an einigen Stellen noch provisorisch wirkt, manchmal sogar nur Zaun ist, durch den hindurch Häuser auf der Ostseite zu sehen sind. In einigen Bereichen sind noch die Relikte der ersten Mauer zu sehen, die 1961 aus Hohlsteinen gemauert wurde. Dahinter steht nun die Mauer der zweiten Phase, die in ähnlicher Form das Bauwerk bis zu seinem Ende prägte: Eine Mauer aus Betonteilen, etwa 3,75 m hoch, oben teilweise durch eine Betonrolle abgeschlossen. An manchen Stellen bestimmt das urbane Umfeld das Aussehen des Bauwerks, bilden zu dieser Zeit mitunter noch Ruinen von – nun fast vollständig abgerissenen – Häusern die Sektorengrenze. In seiner Ausführlichkeit bietet das Buch denjenigen eine Gedächtnisstütze, die vergessen haben, wie sich Westberlin an den Rändern zum Ostteil der Stadt Jahrzehntelang präsentierte.

Doch das Buch ist auch aus fotografischen Gründen interessant. Tajiri fotografiert den Ort in einer sachlich zurückhaltenden Art, die topografisch anmutet und bildnerisch durchaus interessant anzuschauen ist. Er beginnt mit seiner Dokumentation im Stadtteil Rudow am Übergang Walthersdorfer Chaussee, wo Kleingartenkolonien und Felder an die Mauer heranreichen. Mal steigt er auf einen Aussichtsturm und fotografiert von oben, so dass die Grenzbefestigungen auf der Ostseite gut zu sehen sind, mal befindet er sich in einiger Distanz und fotografiert die Landschaft; die Mauer ist dann lediglich ein in der Ferne liegender Aspekt des Bildes.

Er bezieht Straßenschilder mit ein, so dass die BetrachterInnen anhand eines Stadtplans dem Fotografen auf seinen Spaziergängen folgen können. Sind die Bilder zu Beginn meist menschenleer, tauchen in den innerstädtischen Bereichen Personen auf. Vor allem Kinder spielen in den durch die Mauer abgeschnittenen und damit verkehrslosen Straßen, Erwachsene gehen mit dem Hund spazieren oder steigen auf einen der zahlreichen Hochstände, die einen Blick auf die andere Seite ermöglichen. Das Buch beginnt als Dokumentation einer urbanen Peripherie und bewegt sich mehr und mehr in urbane innerstädtische Bereiche hinein, die teilweise noch stark durch Kriegszerstörungen geprägt sind.

Tajiris Haltung betont gerade nicht die emotionale Seite der Existenz der Mauer. An manchen Stellen sind in einiger Entfernung Schilder zu sehen, die von einer »Straßensperrung verursacht durch die Schandmauer« sprechen: Er fotografiert diese gerade nicht von Nahem, sondern beobachtet zurückhaltend, wie sich das Bauwerk in das Stadtbild einfügt. Das mag mancher merkwürdig finden. Tajiri nimmt die Existenz der Mauer als Tatsache zur Kenntnis, die keines weiteren emotionalen Kommentars bedarf, weil deren Unmenschlichkeit ohnehin weithin anerkannt ist. Die Mauer – wie Taijiri sie zeigt – bestimmt vielmehr den Alltag vieler West-BerlinerInnen, denen letztendlich nichts anderes übrig bleibt, als sich mit dieser Beton gewordenen Teilung ihrer Stadt zu arrangieren. Selten sind Kreuze oder Kränze für Mauertote nah ins Bild genommen oder ein Kleidungsstück, das sich im Stacheldraht verfangen hat. Es überwiegt die Totale, die die Stadtlandschaft um die Mauer herum mit möglichst hoher Tiefenschärfe aufzeichnet. Zudem fotografiert Tajiri im Sommer: Der Himmel ist meist neutral Grau, die Bäume sind belaubt. Auch dies trägt zur sachlichen Anmutung der Fotografien bei, die keine emotionale Aufladung durch fotografische Methoden wie beispielsweise dem Abdunkeln des Himmels oder einer selektiven Schärfe erfahren.

Die querformatigen Bilder sind im Buch doppelseitig mit kleinem schwarzen Rand angeordnet. Die Bildkombinationen scheinen weitgehend der Reihenfolge Rechnung zu tragen, in der sie fotografiert sind. So verweist auch die Buchform auf die dokumentierende Absicht des Fotografen. An manchen Stellen springt die Aufzeichnung geografisch, was sich sicher durch das Lektorat eines Ortskundigen hätte vermeiden lassen. Letztendlich spielt dies aber keine Rolle, denn Tajiri schreibt im Vorwort, dass er aufgrund mangelnder Ortskenntnis nicht dafür garantiert, dass er wirklich jeden Meter der Mauer fotografiert habe.

Erschienen ist das Buch bereits im Jahr 2005. Tajiri erwähnt, dass er nie daran interessiert gewesen sei, die Negative in monatelangen Dunkelkammersitzungen zu vergrößern, was sicher daran liegt, dass die Fotografie in seinem künstlerischen Oeuvre eher eine marginale Position einnimmt. So ermöglicht ihm erst das digitale Zeitalter die Erschließung seiner Bestände im hell beleuchteten Büro. Shinkichi Tajiris Buch »The Berlin Wall« erweitert die Palette der Bücher zur Berliner Mauer um ein topografisch anspruchsvolles Projekt, das, anders als die Bücher von Michael Schmidt und John Gossage, nicht die allgemeine Stimmung in der eingemauerten Stadt thematisiert, sondern sich schlicht des Bauwerks annimmt, das schließlich doch nicht so dauerhaft sein sollte, wie sich es deren Erbauer möglicherweise erhofft hatten.


Shinkichi Taijiri, The Berlin Wall, herausgegeben von Taha B.V., 2005, Baarlo, Niederlande.
550 s/w Abbildungen
Format: 15 x 21,5 cm

Sunday, September 14, 2008

Robert Frank: Die Amerikaner

Anlässlich des 50. Geburtstages der Erstausgabe von Robert Franks Buch »Die Amerikaner« legt der Steidl Verlag diesen Fotobuch-Klassiker erneut auf. Robert Frank (*1924 in Zürich) wanderte 1947 in die USA aus und fotografierte »Die Amerikaner« auf Reisen durch die USA in den Jahren 1955/1956 – ermöglicht durch ein Guggenheim-Stipendium.

Die Bedeutung von »Die Amerikaner« ist bis heute ungebrochen. Die Geschichte des Erfolgs beginnt jedoch nicht unmittelbar mit der Erstausgabe. Diese muss in Frankreich erscheinen, weil sich zunächst kein amerikanischer Verlag für die Publikation findet: Die Bilder sind wohl zu kritisch oder vielleicht einfach zu alltäglich und zu beiläufig fotografiert, als dass sie in Amerika Interesse wecken können. Denn Frank lehnt sowohl spektakuläre Sujets als auch eine derartige Bildsprache ab. Henri Cartier-Bressons Theorie des »Entscheidenden Augenblicks« bezeichnet er als glatt und ästhetisierend. Diese Art der Fotografie sei nicht in der Lage, Menschen emotional zu berühren.

Die Aufregung um Franks Buch »Die Amerikaner« lässt sich 50 Jahre später kaum nachvollziehen, ist doch diese Art der Beobachtung des Alltäglichen heute fest im Kanon der fotografischen Stile etabliert. Franks Fotografie kann in einer Tradition der dokumentarischen Fotografie gesehen werden, die auf Walker Evans zurückgeht. Evans bezeichnet seine eigene Fotografie als im »documentary style« fotografiert. Weil er das Adjektiv ›dokumentarisch‹ verdächtigt, gleichsam ›wahr‹ oder ›authentisch‹ zu bedeuten, zieht er es vor, das Dokumentarische als Stil zu benennen, den er verwendet, ohne damit für seine Fotografien einen objektivierenden Anspruch zu verbinden. Die Parallelen zwischen Evans’ und Franks Amerika-Büchern geben Aufschluss über Evans’ Einfluss. So ist es nicht verwunderlich, dass Walker Evans Franks Projekt als dessen Mentor maßgeblich unterstützt.

Auch heute üben die Bilder noch immer eine große Faszination aus. Einerseits mag das mit der Atmosphäre einer vergangenen Zeit in Verbindung stehen; andererseits geht diese Faszination über das historische Moment hinaus und gründet in der Kraft der Bilder. Viele wirken zeitlos; im groben Korn der Schwarzweißfotografie, in leichten Unschärfen oder besonderen Lichtsituationen manifestiert sich zudem eine Spur von Melancholie. Und obwohl Autos und modische Vorlieben sich gewandelt haben, wirken viele der fotografierten Situationen sehr zeitgemäß: Wenn Gemälde von Washington und Lincoln mit dem Sternenbanner einträchtig beieinander hängen oder orthodoxe Juden eine New Yorker Fähre benutzen, erscheint das auch heute ganz natürlich. Franks Konzentration auf einen Moment, einen Gesichtsausdruck, eine spezifische Szenerie zieht uns als BetrachterInnen hinein in die Bilder, lässt uns teilhaben. Die Fotografien wollen uns nichts erklären oder uns gar belehren: Wir sollen bloß genau hinschauen und unsere eigene Einschätzung der Situation entwickeln.

Rassentrennung in öffentlichen Verkehrsmitteln? Frank fotografiert nicht das Schild, das darauf hinweist, sondern zeigt eine Szene, in der Schwarze und Weiße einer bestimmten Sitzordnung folgen. Das erzeugt vielleicht zunächst keine Empörung und wirkt erst auf den zweiten Blick; aber es wirkt dafür umso nachhaltiger, weil es die Situation im Bild reflektiert. Unabhängig davon, wo Frank fotografiert, bleibt er auf Distanz, selbst wenn er ganz nah herangeht. Immer wahrt er den Abstand des Fremden. Ob bei den Schönen und Reichen oder den Durchschnittsbürgern, den Arbeitern, den Armen, den Diskriminierten – er beobachtet und nimmt teil, aber er gehört nie dazu. Die Distanz ermöglicht es Frank, sich nicht vereinnahmen zu lassen und genau hinzuschauen. Uns BetrachterInnen eröffnet dies die Chance, uns ein eigenes Bild zu machen, je nachdem, wie wir uns einlassen auf die Bilder, auf die Situationen, auf die fotografierten Menschen. Diese Unabhängigkeit haben sich die Bilder bewahrt und sie ist es wohl auch, die ihnen bis heute ihre Kraft verleiht. Frank fotografiert Amerikanisches, auch Symbolisches, ohne die Fotos selbst als Symbole anzulegen. Die Fotos lassen sich von ihren Sujets nicht vereinnahmen und bleiben als Bilder unabhängig.

Die Wirkung des Buches entfaltet sich auch durch die Anordnung der Bilder. Frank nimmt einzelne Elemente an unterschiedlichen Stellen auf, manchmal fügt er Inhalte über formale Korrespondenzen zusammen: Das eingepackte Auto vor dem von Palmen beschatteten Bungalow leitet über zum abgedeckten Unfallopfer in einer unwirtlichen Gegend mitten im Nirgendwo. Über inhaltliche Bezüge werden kurze Bildstrecken zusammengefügt. Aus einer Abfolge von wenigen Bildern, in denen beispielsweise christliche Kreuze eine Rolle spielen, kann sich eine Sequenz entwickeln, selbst wenn die Fotografien formal sehr unterschiedlich sind. Die Bilder werden so innerhalb des Buches fest miteinander verwoben.

Die Neuausgabe von »Die Amerikaner« ist leicht verändert. Das Format ist – im Vergleich zu meiner Ausgabe des Münchner Christian Verlags von 1986 – kleiner und kompakter geworden. Reihenfolge und rechtsseitige Anordnung sind unverändert, aber einige Bildausschnitte sind neu, weil Robert Frank nun das ganze Negativ zeigt. Zudem sind laut Verlag zwei Bilder ausgetauscht, wo eine andere Belichtung derselben Situation ausgewählt wurde. Diese Änderungen sind von Robert Frank autorisiert, der selbst intensiv an der Neuausgabe mitgearbeitet hat. Eine Veränderung der Neuausgabe ist jedoch irritierend: Die kurzen Bildtitel, die meist den Ort der Aufnahme benennen, sind nun auf der linken Seite neben den Fotos abgedruckt. Dies entspricht der amerikanischen Originalausgabe von 1959. In meiner Ausgabe finden sie sich als nummerierte Liste am Ende des Buches.

Die Irritation hängt vielleicht auch mit der Publikationsgeschichte von Walker Evans Buch »American Photographs« zusammen: Evans hatte absichtlich alle Bildtitel an den Schluss der Bildteile verbannt, damit die Bilder als Bilder ohne textliche Information angeschaut werden können. Nachfolgende Ausgaben hatten das immer ignoriert, bis 1988, ebenfalls zum 50. Jubiläum, eine Neuausgabe veröffentlicht wurde, die Evans’ Wunsch respektierte. In der Steidl Publikation von Robert Franks »Die Amerikaner« scheint es nun ausdrücklicher Wunsch des Fotografen zu sein, dass die Bildtitel neben den Bildern abgedruckt sind. Ich finde sie eher störend: Denn sie stehen gewissermaßen vor der intensiven Beschäftigung mit den Bildern. Die Bildtitel bezeugen den Charakter der Bilder als Dokumente, indem sie eine Verbindung zu realen Orten herstellen. Diese Verbindung besitzt aber für die Betrachtung der Fotografien als Bilder keine Relevanz. Mein Eindruck ist, dass die Titel helfen sollen, die Bilder zu lesen, zu entschlüsseln, zu verstehen. Doch ich möchte sie vielmehr eingehend betrachten, mich in ihren Bann ziehen lassen, mich ihrer Wirkung öffnen. Dafür reicht das Wissen um Entstehungsort und -zeit des Buches. Ob es aus europäischer Perspektive heraus überhaupt möglich ist, dieses Amerika zu verstehen, darf ohnehin bezweifelt werden.

Robert Frank: Die Amerikaner, Göttingen 2008, Steidl.
180 Seiten, 83 Abbildungen
Format: 18.4 x 20.9 cm

In eigener Sache: EP/2006/K.



»Bettina Lockemann legt einen fein gewebten Teppich von Bildern aus. […] In ihrer Serie tariert sie Bilder der verwirrenden Leere und Monotonie in den endlosen Korridoren gegen solche der szenischen Fülle in öffentlichen Räumen des Parlaments. In ihrer Rhythmik wirken sie wie das Logbuch eines zwischen Erschöpfung und Hast changierenden Laufs durch das Labyrith des Parlaments. Lockemann selbst greift in diesem Zusammenhang auf Kafkas ›Schloss‹ als Symbol einer unzugänglichen Bürokratie zurück.«
Thomas Huber und Jörg Koopmann

Wir freuen uns, dass mit EP/2006/K. der in Köln lebenden Künstlerin Bettina Lockemann (*1971) der erste Band der Edition des Büro für Bildangelegenheiten vorliegt. EP/2006/K. erscheint als Buchobjekt in einer nummerierten Auflage von 275 Exemplaren. Eine Sonderedition mit einem Baryt-Print erscheint in einer Auflage von 25 Exemplaren.

Bettina Lockemann hat EP/2006/K. auf Einladung des Europäischen Parlaments und des Goethe-Instituts im Jahr 2006 im Europäischen Parlament in Brüssel fotografiert. Das Thema des Fotoprojekts, die Undurchdringlichkeit und Unnahbarkeit bürokratischer Räume und Prozesse, wird in der Ausstattung der Edition wieder aufgegriffen: Die 30 Blatt umfassende Loseblattsammlung – bestehend aus 28 Schwarzweißfotografien, Inhaltsübersicht und Textseite – ist in einer Aktenmappe im Format DIN A4 zusammengefasst; der Titel ist außen auf den Deckel gestempelt.

Die reguläre Ausgabe ist zum Preis von 28 Euro erhältlich. Die Sonderedition mit einem signierten und nummerierten Baryt-Print im Format 18 x 24 cm kostet 100 Euro.


Konzeption, Fotografie und
Gestaltung: Bettina Lockemann
ISBN: 978-3-00-025563-2
© Bettina Lockemann 2008

Bestellungen bitte an:
info [at] bildangelegenheiten.de

Weitere Informationen unter:
http://archivalien.de/

Sunday, June 15, 2008

Judith Joy Ross: Living With War

Krieg ist – auch wenn man es nicht wahrhaben möchte – ein Alltagsphänomen unserer Gegenwart. Selbst wenn er nicht unmittelbar im eigenen Umfeld stattfindet, prägt er die Gesellschaften, die sich im Krieg befinden. Dies trifft vielleicht besonders auf die USA zu, die nicht erst seit dem 11. September 2001 Kriege auf anderen Kontinenten führen. Die amerikanische Fotografin Judith Joy Ross (*1946 in Hazelton Pennsylvania) beobachtet seit den 1980er Jahren Menschen, die sich im weiteren Sinne mit dem Phänomen Krieg auseinandersetzen. Ihr Buch „Living with War“ fasst nun drei Serien aus dem thematischen Umfeld zusammen.

Judith Joy Ross fotografiert ausschließlich schwarz-weiße Porträts. Die meist einzeln auftretenden Personen werden durch die geringe Tiefenschärfe aus ihrem Umfeld visuell herausgehoben. Ross verwendet immer eine 8x10 inch (ca. 20x25 cm) Großformatkamera. Dieses Format ist nicht für spontane Aufnahmen geeignet, sondern erfordert eine sorgfältige Prozedur vom Scharfstellen bis zur Belichtung, was sich in der Haltung und im Blick der Porträtierten widerspiegelt, die einen längeren Moment still halten müssen. Im Buch sind die Bilder in der Negativgröße abgedruckt, so dass die Präzision der in den Ausstellungen präsentierten Kontaktkopien auch im Druck noch zu erkennen ist.

Die erste Serie in „Living With War“ ist wohl die Bekannteste: 1983/84, kurz nach dessen Eröffnung im Herbst 1982, porträtiert Ross Menschen, die das Vietnam Veterans Memorial in Washington D.C. besuchen. So zeigt die erste Fotografie im Buch zwei US Marines in weißen Ausgehuniformen vor der signifikanten schwarzen Granitwand, in die die Namen der in Vietnam getöteten und vermissten US-Soldaten eingemeißelt sind. Diese Fotografie ist eine der wenigen, die mittels Hintergrund auf den spezifischen Ort verweisen. Sie benennt den räumlichen und setzt den atmosphärischen Kontext, der sich in den folgenden Bildern eher in der Haltung oder den Gesichtern der Porträtierten spiegelt.



Die folgenden Porträts zeigen die Menschen meist halbnah. Manche schauen direkt in die Kamera, andere scheinen die Namen auf der – für den Betrachter unsichtbaren – Wand zu lesen. Die Menschen blicken ernst, gefasst und wirken sehr bei sich. Die Bilder zeigen Menschen unterschiedlicher Generationen. Ob sie persönlich von den Auswirkungen des Krieges betroffen sind, erfahren wir nicht. Die Porträtierten sind namenlos, es gibt keine Bildtitel, die Informationen liefern könnten. Wir betrachten Menschen, die sich individuell der Erinnerung an die historischen Ereignisse an einem atmosphärisch aufgeladenen Gedenkort aussetzen.

Ohne Übergang folgt die zweite Bildreihe, die mit „U.S. Army Reserve, On Red Alert/Gulf War Rallies 1990“ betitelt ist. Die Serie beginnt mit Bildern von uniformierten Soldatinnen und Soldaten, die sich auf einen möglichen Einsatz im Golfkrieg vorbereiten. Im deutlichen Unterschied zur ersten Serie werden hier die Namen der Porträtierten genannt. Die erste Fotografie zeigt eine Soldatin unbestimmter ethnischer Herkunft. Ihr Alter ist schwer zu bestimmen, auch weil die Aufnahme eine leichte Unschärfe aufweist, die auf eine Kopfbewegung während der Belichtung zurückzuführen ist. Doch die Unschärfe stört nicht, denn die Intensität des Blickes von P.F.C. (Private First Class – niedrigster Dienstgrad in der US Army) Maria I. Leon fesselt: Sie schaut sehr ernst und konzentriert in die Kamera. Was mag in ihr vorgehen? Im Bild der uniformierten Frau findet sich keine Antwort. Judith Joy Ross bemüht sich nicht, die Porträtierte psychologisch zu erfassen. Und dennoch brennt sich Leons Gesichtsausdruck ins Gedächtnis der Betrachter ein. Der im Bild fixierte Blick beunruhigt vielleicht auch deshalb, weil er nicht lesbar ist und die Fotografie nicht vorgibt, ihn interpretieren zu können.


Besonders intensiv wirken jene Bilder der Serie „U.S. Army Reserve“, in denen die Porträtierten direkt in die Kamera blicken und sich das im Raum vorhandene Licht in ihren Augen spiegelt. Doch auch die Porträts derjenigen, die nachdenklich in die Ferne oder auf den Boden schauen, besitzen eine Intensität, die unter anderem auf der hohen Auflösung und Plastizität der Großformat-Fotografien beruht. Die große Strahlkraft der Originale vermittelt sich noch im gedruckten Buch.

Zwischen den Bildern der SoldatInnen fügt Ross Fotografien von jungen Menschen ein, die gegen den Krieg protestieren. Auch sie schauen ernst und konzentriert. Weil sie Zivilkleidung tragen, wirken sie aber individueller als die Armeeangehörigen.

Diese Bilder leiten über zur dritten Serie, die „Protesting the U.S. War in Iraq 2006/07“ heißt. Hier fotografiert Ross Kriegsgegner aller Generationen auf verschiedenen Demonstrationen. Manche halten Plakate in der Hand, doch die meisten sind ohne Requisiten fotografiert. Wie auch in den anderen Serien inszeniert Ross nicht, sondern stellt den Menschen frei, der Kamera in einer Haltung zu begegnen, die sie selbst aussuchen. So entstehen ganz unterschiedliche Porträts. In vielen Fotografien dieser Serie modelliert das starke Sonnenlicht die Gesichtszüge und beeinflusst wohl auch den Blick und die Haltung der Fotografierten. Es scheint fast, als ob manche Porträts von innen heraus leuchten. Die Bilder dieser Serie sind mit Namen, Ort und Jahreszahl betitelt.



Ross unternimmt keine Einordnung über berufliche oder soziale Attribute. Sind sie jedoch vermerkt, wie beispielsweise bei der Fotografie des ehemaligen Kongressabgeordneten und Senators John Verkamp, wirkt dies fast schon störend. Besonders fällt die Fotografie eines Priesters auf. Die Präsenz der berufstypischen Insignien lässt die sonst vorhandene Anonymität verblassen und führt dazu, dass man Gesichtsausdruck, Haltung und Kleidung als Ausdruck des beruflichen Interesses interpretiert. Die Individualität und Anonymität der Person wird in der Zuordnung zu einer spezifischen Berufsgruppe zurückgenommen. Denn die Unmöglichkeit, gültige Aussagen über die Porträtierten zu treffen oder sie einer bestimmten sozialen Gruppe zuzuordnen, hebt deren Individualität geradezu hervor. Und darin liegt eine der herausragenden Qualitäten der Arbeit von Judith Joy Ross. Blick, Haltung, Kleidung bilden die wenigen Attribute, die sich zur Betrachtung der abgebildeten Personen heranziehen lassen. Das Fehlen zusätzlicher Informationen, also die Konzentration der Arbeit auf das im Bild Abgebildete und damit die außerordentliche Wirkung des bloß Sichtbaren, entziehen einer deutenden Betrachtung die Grundlage.



Ross zeigt die Physiognomien einiger ihrer Landsleute, die durch das Ereignis Krieg an der politischen Realität teilhaben. Insofern gehen die Porträts über das Individuelle der einzelnen Personen hinaus. Sie erzeugen Aufmerksamkeit für die Verantwortung, die das Individuum im gesellschaftlichen Rahmen trägt. Die drei Serien geben einen Einblick in unterschiedliche Momente der jüngeren amerikanischen Vergangenheit bis hinein in die Gegenwart. Die dokumentarische Haltung von Judith Joy Ross lässt die Porträtierten in den Fotografien eigenständig auftreten. Zugleich hält sich die Fotografin mit der Interpretation zurück. Ihr Interesse gilt nicht der konkreten politischen oder gesellschaftlichen Situation, sondern den Menschen, die sich zu ihr verhalten müssen und mit ihr auseinandersetzen. Auf diese Weise macht sie auch ihren eigenen – dezidiert gegen den Krieg gerichteten – Standpunkt deutlich.

Judith Joy Ross: Living with War. Herausgegeben von Heinz Liesbrock. Kat. (Josef Albers Museum Quadrat Bottrop), Göttingen 2008, Steidl.
164 Seiten, 86 Abbildungen
Format: 30 x 24 cm


In diesem Sommer sind die Bilder aus „Living With War“ von Judith Joy Ross an verschiedenen Orten zu sehen: „Living With War“: 4.6. bis 28.6.2008 Galerie der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, 19.7. bis 5.10.2008 c/o Berlin; „Protestors“: 13.6. bis 19.7.2008 Galerie Sabine Schmidt in Köln.

Tuesday, May 20, 2008

Helen Levitt: Fotografien 1937-1991

Helen Levitt interessiert sich für Menschen. Ihre Aufmerksamkeit erregt, wer sich im öffentlichen Raum der Straße bewegt. Helen Levitts Menschen gehen hier ihrer Arbeit nach, eilen von A nach B oder verbringen hier einfach ihre Freizeit. Hier, das sind die Straßen ihrer Heimatstadt New York, die die 1913 geborene Helen Levitt seit den 1930er Jahren beobachtet. Mit schwarzweißen und farbigen Fotografien zeichnet sie das städtische Leben im Stil der „street-photography“ auf. Doch durch die lange Zeitspanne, über die diese Bilder entstanden sind, sind sie zugleich zu Zeitporträts geworden, denen die Atmosphäre New Yorks in ihren Wandlungen eingeschrieben ist.

Einen Ausschnitt aus diesen Fotografien bietet nun ein Buch, das als Katalog zur umfangreichen Hannoveraner Retrospektive anlässlich der Verleihung des Spectrum Preises für Fotografie an Helen Levitt erschienen ist. Es versammelt Fotografien aus den verschiedenen Schaffensphasen der Autorin. Die Bilder sind nicht chronologisch angeordnet, schwarzweiße und farbige Fotografien sind gemischt, so dass ein kaleidoskopischer Einblick in Levitts Arbeitsweise gewährt wird. Hinzu kommt, dass die Bilder nicht mit Datums- und Ortsangaben ausgezeichnet sind. Im Resultat beginnen die Bilder dadurch eigenständig für sich zu stehen. Hinweise auf den Zeitpunkt ihrer Entstehung geben allein die Kleidung der ProtagonistInnen, die Werbeplakate oder auch die Automobilmodelle. Diese Hinweise genügen: Nach und nach, das fällt auf, verschwinden die spielenden Kinderscharen aus Levitts Fotografien, und auch die Nachbarschaft als sozialer Raum des Kontakts und der Begegnung zwischen Menschen löst sich offenbar auf. Es scheint fast, als verwandle sich die Straße über die Jahre zum bloßen Transitraum und Aufenthaltsort nur noch für Menschen, die anders sind, sich am Rande der Gesellschaft bewegen.

Im Durchmessen des langen Zeitraums werden Levitts Fotografien zu Dokumenten einer sich wandelnden Stadt und ihrer Gesellschaft. Doch etwas wie Wehmut beim Anblick von Vergangenem lässt das Buch, lässt vor allem die durchbrochene Chronologie, bei allem Wandel und offenbaren Verlust, nicht zu. Was bleibt, ist die scharfe Beobachtung des urbanen Raums und seiner ProtagonistInnen.

In den frühen Fotografien tummeln sich Menschen – vor allem Kinder – auf der Straße. Sie toben und tanzen, sind in Bewegung, festgehalten in einem kurzen Moment. Durch ihre Blicke und Gesten entstehen innerhalb der Bilder Beziehungen. Sie verdichten sich durch den Rahmen des Bildes, der alles, was außerhalb liegt, vergessen lässt. Selbst wenn einige Jungs mit ihren Spielzeugpistolen abwesenden Spielkameraden auflauern, entsteht durch den Blick des Mittleren eine Spannung, die keiner weiteren Erklärungen bedarf. So verdichtet sich auch im Bild der beiden Herren, die auf ihren Holzstühlen bei der Hochbahn am Straßenrand sitzen, der eine gestenreich erzählend, der andere sich wegdrehend, die Atmosphäre des täglichen Lebens, in dem die sozialen Beziehungen innerhalb des öffentlichen Raums ihren festen Platz behaupten.

Diese klar strukturierten Bilder wechseln sich ab mit Ansichten komplexer Situationen: Während eine Frau hinter ihrer Zeitung verborgen ist, die in großen Lettern vom alliierten Vormarsch in Italien berichtet, scheinen die drei anderen Damen in ein Gespräch vertieft. Die beiden stehenden Frauen in Mänteln schauen zu der sitzenden Frau herab, die gerade ihren Mund mimisch verzieht, die Augen halb geschlossen. Links, in einem Kinderwagen, liegt ein schlafendes Kind, im Glas des dahinter liegenden Fensters spiegeln sich einige Brownstones und Passanten. Dieses Bild erklärt nichts, es zeigt eine Situation in der es sich die vor dem Haus auf Holzkisten sitzenden Damen gemütlich gemacht haben und dort anderen begegnen. Doch der Fokus bleibt nicht auf der engeren Gruppe, er bezieht den Kinderwagen und die Fensterspiegelung mit ein, er öffnet das Blickfeld und beleuchtet auch den sozialen Raum, in dem sich die Personen begegnen.

Während viele der frühen Schwarzweiß-Fotografien wie ein Guckkasten den Blick auf eine Bühne freigeben, rücken die Farbfotografien seit den 1970er Jahren eher einzelne Personen oder kleinere Personengruppen ins Zentrum. Zugleich verändert sich die Art und Weise der Vermittlung des komplexen sozialen Beziehungsgeflechts in den Fotografien Levitts. Eine Fotografie zeigt beispielsweise eine Frau, die mit Lockenwicklern im Haar vor einem Friseurladen mit einer Lupe die Fernsehzeitung studiert. Über sie hinweg blicken uns die Frisurenmodelle aus dem Schaufenster mit ihren frisch geföhnten Haaren direkt in die Augen. Aus der einzelnen Figur wird im Bild ein Dreierporträt, das durch eine weitere Hinterkopfansicht ergänzt wird. Ein alter Mann bläst im Rinnstein zwischen Abfall stehend bunte Luftballons mit Katzengesichtern auf. Dabei schaut er ganz versunken nach links aus dem Bild, seine Figur hebt sich vor der leicht unscharfen Fassade eines Kiosks deutlich ab. Obwohl die einzelnen Figuren isoliert in der Bildmitte erscheinen, öffnet die Kamera auch den Blick zur Straße.

Auf diese Weise halten die Bilder zunächst scheinbar isolierter Individuen den Kontakt zur sozialen Komplexität, zeigen sie doch – wenn auch manchmal unscharf – das Geschehen im Hintergrund. Die Fotografin hält Abstand, auch wenn sie eine Mutter, die sich mit ihren zwei Kindern in eine Telefonzelle quetscht, ins Zentrum eines Bildes rückt. Denn der Abstand gewährt den Blick auf das Stadtgeschehen, die Passanten im Hintergrund, das rissige Pflaster. Die Bildaufteilung setzt so die beobachtete Situation in Beziehung zum Stadtraum: Der fehlende Platz in der Telefonzelle wird durch den geöffneten, umgebenden Raum wettgemacht. Die Eigentümlichkeit der Situation wird normalisiert.

Helen Levitt stellt die Menschen nicht bloß, selbst wenn sie sich in skurrilen, komischen oder ungewöhnlichen Situationen befinden. Ihre beobachtenden Fotografien geben Raum, zeigen Gesten und Situationen, in denen die Menschen ihre Würde behalten. Walker Evans hat Levitts Ansatz einmal „Antijournalismus“ genannt. Damit ist wohl gemeint, dass ihre Fotografien nicht über Außergewöhnliches oder Besonderes informieren. Vielmehr zeigen Helen Levitts Fotografien, dass die Welt um uns herum mit all ihren kleinen Alltäglichkeiten durchaus beachtenswert ist. In den Bildern entwickeln die Gesten und Situationen ein Eigenleben.
Der Auslöser der Kamera Helen Levitts ist vielleicht nicht der „Knopf zur Geheimpassage“, der von Kinderhand mit Kreide auf eine Hauswand gemalt ist, doch ermöglichen ihre Fotografien den Betrachtern die Wahrnehmung einer Welt des Situativen, die eigentlich hätte vergänglich und vielleicht sogar unbeobachtbar sein sollen.


Inka Schube (Hg.), Helen Levitt. Fotografien 1937 – 1991, Kat. (Sprengel Museum Hannover), New York 2008, Powerhouse Books, Brooklyn, NY
168 Seiten, 132 Abbildungen
Format: 32,5 x 31,5 cm