Friday, May 19, 2006

Bahnfahren


Ich habe das große Glück, nicht schon um 9.00 im Büro sein zu müssen. Denn es erleichtert das Leben ungemein, nicht in der Hauptstoßzeit die Bahn benutzen zu müssen. Das bedeutet natürlich trotzdem stehen, aber immerhin ohne direkten Körperkontakt. Zudem kann ich die JR benutzen, also die S-Bahn der Japan Rail, was bedeutet, oberirdisch zu fahren. Auch das finde ich wesentlich angenehmer, als mich in vollen U-Bahnen unter der Erde fortzubewegen.

Bekanntermaßen sind die Bahnen in Tokyo fast immer ausgelastet. Als neulich mal zur Nebenzeit, so gegen 11:00 vormittags eine Bahn der Yamanote-Ringlinie stehen bleiben musste, wurden nach ca. einer Stunde 2000 Menschen über die Gleise zum nächsten Bahnhof geführt. Der Verkehr war ungefähr für 4 Stunden unterbrochen, insgesamt waren etwa 325.000 Fahrgäste betroffen. Das gibt vielleicht einen kleinen Einblick. Man muss hier auch nie nach einer Bahn rennen, denn die nächste kommt ohnehin in 3 bis 4 Minuten.

Weil es aber oft sehr voll ist, erfordert das Bahnfahren eine gewisse Disziplin. Auf dem Bahnsteig sind immer die Türen mit Waggonnummer markiert, dort stellt man sich in einer Reihe an. An großen Bahnhöfen sind auch noch weitere Wartebereiche eingezeichnet. Sobald der eingefahrene Zug stehenbleibt, tritt die Schlange wohlgeordnet neben die Türen. Man lässt zuerst aussteigen und begibt sich dann selbst in den Wagen. Es wird auch schonmal gedrängelt, aber eigentlich läuft es selbst bei sehr vollen Zügen noch entspannt. Und wenn es sehr voll ist, drängelt man nicht einfach in den Wagen hinein. Man steigt vorwärts ein, dreht sich dann aber sofort um mit dem Blick Richtung Tür oder Fenster. Das finde ich immer besonders charmant.


Neulich morgen ist mal eine Bahnlinie ausgefallen, die teilweise parallel zur Yamanote-Linie fährt. Also musste die Yamanote doppelt so viele Fahrgäste aufnehmen. Es wurde so voll, dass es mir zunächst nicht mehr gelang, meinen zweiten Arm, der unten geblieben war, nach oben zu nehmen. Weil zahlreiche Fahrgäste sich nicht festhalten konnten, wurde die Menge beim Anfahren in die eine, beim Anhalten in die andere Richtung geworfen. Umfallen konnte man selbstverständlich nicht, aber ich musste aufpassen, nicht von meiner in der Gepäckablage befindlichen Tasche getrennt zu werden. Das war nicht leicht. Aber ich habe es in solch einem Fall noch ganz gut, denn als überdurchschnittlich große Person bekomme ich noch Luft. Ich war wirklich sehr besorgt wegen der kleinen älteren Damen, die neben mir standen. Als ich dann endlich aussteigen durfte, sah ich auf dem Bahnsteig auch bereits einen Fahrgast leichenbass auf einer Trage liegen. Er war wohl kollabiert, wurde aber bereits von zwei Bahnbeamten umsorgt.
Und das beste ist: wenn es zu größeren Verspätungen kommt, dann steht an meinem Aussteigebahnhof immer ein Beamter, der Entschuldigungszettel für den Chef verteilt, damit der auch glaubt, dass man nicht getrödelt hat.

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